Nach SAP-Ausstieg bei IS-H: Warum viele Kliniken ein neues KIS suchen (2024)

Acht Monate nach dem angekündigten SAP-Ausstieg bei der IT-Branchenlösung IS-H suchen viele deutsche Krankenhäuser weiterhin eine funktionsfähige und zukunftssichere Alternative. Zwar haben verschiedene KIS-Anbieter inzwischen Lösungen angekündigt, die an die eigenen KIS andocken sollen, doch „eine greifbare Lösung ist noch nicht in Sicht“, erläuterte Michael Pfeil am Rande der diesjährigen DMEA. Pfeil ist Sprecher des Arbeitskreises Healthcare bei der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe e. V. (DSAG).

Es gibt nicht ausreichend genug Dienstleister, die das in dem engen Zeitrahmen umsetzen können.


Die Ankündigung des deutschen Softwareriesen erwischte die gesamte Branche zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Die IT-Abteilungen der Krankenhäuser wie auch viele IT-Hersteller sind derzeit voll damit ausgelastet, KHZG-Projekte pünktlich umzusetzen. Der Zeitdruck für alle Beteiligten ist enorm, denn die KHZG-Projekte sind aufgrund verspäteter Auszahlung der Fördermittel und dem eklatanten IT-Fachkräftemangel in der gesamten Health-IT-Branche schon in Verzug. „Es gibt nicht ausreichend genug Dienstleister, die das in dem engen Zeitrahmen umsetzen können“, warnt Michael Pfeil, der hauptberuflich IT-Manager an der Uniklinik Bonn ist. Zudem sind auch die finanziellen Ressourcen vieler Kliniken aufgrund der hohen Energie- und Inflationskosten vielerorts erschöpft. Ausgerechnet in dieser Situation werden viele Klinikträger nun gezwungen, viele Millionen Euro in neue KIS zu investieren.

Die zwangsweise Suche nach einem neuen KIS hängt mit den Spezifika von IS-H zusammen. Die Branchenlösung wird derzeit von weit mehr als 500 Krankenhäusern im DACH-Raum zur Abrechnung und zum Patientenmanagement genutzt. Es ist Bestandteil der Unternehmenssteurungssoftware SAP ECC, für die der deutsche Softwarekonzern aber seit 2015 den cloudfähigen Nachfolger S/4Hana anbietet. Auch das KIS i.s.h.med von OracleCerner basiert auf SAP ECC, weswegen viele große Krankenhäuser, darunter viele große Uniklinika, IS-H gemeinsam mit i.s.h.med nutzen.

Viele Krankenhäuser haben nicht geglaubt, dass SAP tatsächlich Ernst macht und sich traut, viele Unikliniken so früh von IS-H abzunabeln. Da haben sich einige Klinikträger verzockt.

Wegen der Umstellung hatte SAP bereits 2015 angekündigt, dass der Support für ECC bis 2030 endgültig ausläuft. Überraschend für die Krankenhäuser kündigte SAP im vergangenen September jedoch zusätzlich das Ende der Standardwartung für IS-H bereits für 2027 an. Oder bis maximal 2030, gegen die Zahlung einer deutlich teureren Extended Support-Pauschale. „Viele Krankenhäuser haben nicht geglaubt, dass SAP tatsächlich Ernst macht und sich traut, viele Unikliniken so früh von IS-H abzunabeln. Da haben sich einige Klinikträger verzockt“, urteilte ein hochrangiger Manager eines großen KIS-Anbieters gegenüber kma auf der DMEA.

Mehrere von kma befragte Klinik-CIOs weisen hingegen den Vorwurf zurück. Es mangele derzeit schlicht an Alternativen mit offenen Softwareprodukten, sagen sie. Der bisherige Vorteil der IS-H-Software ist deren große Flexibilität, da Kliniken spezifische Anforderungen für das eigene Haus aufgrund des Standards problemlos als Ergänzung an das eigene KIS anbinden können, egal von welchem Hersteller es stammt. „Man kann gute Detaillösungen andocken, außerdem ist IS-H gut in i.s.h.med integrierbar“, sagt Dr. Peter Gocke, CDO der Berliner Charité.

Der bisherige Vorteil hat sich nun durch den Schritt von SAP in einen erheblichen Nachteil verwandelt. Mit dem Auslaufen des normalen Supportes von IS-H im Jahr 2027 wird auch i.s.h.med technisch eigentlich obsolet. SAP hat den betroffenen Kliniken mitgeteilt, die bislang in IS-H abgebildeten Funktionalitäten für Patientenadministration und -abrechnung können künftig durch moderne Krankenhausinformationssysteme (KIS) verschiedener Hersteller abgedeckt werden. Solche Aussagen sorgen naturgemäß für Entzücken in den Chefetagen der etablierten KIS-Anbieter. Dort wird die große Chance gewittert, OracleCerner einen Großteil ihres i.s.h.med-Geschäftes abzuluchsen. Fast alle Anbieter, darunter zum Beispiel Dedalus und Telekom Healthcare, haben aus diesem Grund inzwischen eigene Lösungen angekündigt.

Branche ist voll ausgelastet

Allerdings hat diese Variante aus Sicht vieler Klinik-CIOs auch ihre Nachteile. Herstellerspezifische Lösungen, die nur an das bestehende KIS eines bestimmten Anbieters andocken können, sind aus deren Sicht nicht mehr zeitgemäß. „Warum soll ich denn jetzt in eine Insellösung eines KIS-Herstellers investieren, wenn die Zukunft in Plattformen mit offenen Standards liegt“, sagt der CIO eines großen Maximalversorgers, der ungenannt bleiben möchte. Zudem liegen viele der angekündigten Lösungen noch gar nicht marktreif vor. Dabei ist Zeit genau das, was die betroffenen Krankenhäuser nicht haben. Diese stehen vor einem unhaltbaren Dilemma: Sie müssen jetzt KHZG-Projekte in ihr KIS einbinden – und müssen sich zeitgleich ein neues KIS suchen. Ein ähnliches Problem haben die KIS-Anbieter, die aufgrund der KHZG-Projekte voll ausgelastet sind. Sie müssen plötzlich Entwicklerkapazitäten für eine IS-H-Nachfolge freischaufeln, die sie eigentlich für ihre KHZG-Angebote benötigen.

Als weiterer Kollateralschaden der neuen SAP-Strategie stocken laut DSAG nun auch schon bestehende Umsetzungsprojekte von SAP/4HANA -Projekten an vielen Krankenhäusern. Laut einer Anwenderumfrage der DSAG aus dem März haben vier Prozent der befragten Häuser S/4HANA im Einsatz, allerdings ortsgebunden („On-Premise“), bei fünf Prozent läuft dafür ein Projekt zur Einführung. „Zwar planen immerhin 47 Prozent den Einsatz von S/4HANA On-Premise, doch unentschieden sind mit 42 Prozent fast genauso viele. Die neue SAP-Healthcare-Strategie hat laufende S/4HANA-Vor- und -Umsetzungsprojekte in vielen Häusern ins Wanken gebracht oder zunächst sogar komplett gestoppt“, hatte Michael Pfeil damals bei der Veröffentlichung der Umfrageergebnisse mitgeteilt.

KIS in der Cloud: IT-Manager sind skeptisch

Für viele IT-Manager in Krankenhäusern berührt die Frage, S/4Hana ja oder nein jedoch auch ihre grundsätzliche Haltung zu Cloud-Anwendungen – für S/4HANA, Personal-, Patientenmanagement- und für medizinisch-klinische Lösungen. Elf Prozent der Befragten schlossen in der Umfrage die Cloud kategorisch aus, 62 Prozent hielten den Einsatz von Cloud-Anwendungen zwar für denkbar, allerdings nicht für Gesundheitsdaten. 71 Prozent sahen einen gesetzlichen Widerspruch zum Datenschutz und zur Datensicherheit hinsichtlich der Speicherung von Patientendaten. Vor dem Hintergrund der geplanten Klinikstrukturreform und der damit einhergehenden zukünftigen intersektoralen digitalen Vernetzung zwischen allen Akteuren ist das ein schwieriger Befund.

Gleichzeitig sind für diese Anforderungen aber einige etablierte KIS auf dem deutschen Markt inzwischen technologisch veraltet. Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach sieht das offenbar genauso und hat deshalb schon vor Monaten das amerikanische Epic-System als Alternative in den Raum geworfen. Und dies, obwohl Epic deutlich teurer ist als alle bestehenden KIS in Deutschland – und von Ärzten wegen der strikten Vorgaben gern abgelehnt wird. Bei der aktuellen Suche der Charité nach einem neuen KIS zählt Epic dennoch durchaus zu den heißen Kandidaten.

GITG arbeitet an IS-H-Nachfolger

Wie auch immer: Nach der heftigen Kritik der DSAG, in der zahlreiche IT-Verantwortliche von großen Unikliniken vertreten sind, arbeiteten KIS-Hersteller und weitere Softwareanbieter an Alternativen. OracleCerner will ein neues KIS entwickeln und soll auf der DMEA zudem angekündigt haben, zur Überbrückung einen verlängerten Support für IS-H bis 2035 anzubieten. Ohne Unterstützung durch SAP sind viele Betroffene jedoch skeptisch, ob die Offerte tatsächlich umsetzbar ist. Gleichzeitig präsentierte das SAP-Systemhaus GITG auf der DMEA den Prototypen eines IS-H-Nachfolgers auf S/4Hana-Basis. Die Software entwickelt GITG gemeinsam mit dem spanischen SAP-Spezialisten Common MS, die nach eigenen Angaben bereits eine Patientenabrechnungslösung auf SAPS/4Hana anbietet. Die Software soll 2025 einsetzbar sein. Für GITG-Vorstandschef Prof. Wilken Möller ist das Vorhaben nicht ohne Risiko, wie er gegenüber kma einräumte. Sollte es zu Verzögerungen beim Rollout der neuen Branchenlösung kommen, könnten viele Kliniken längst auf neue KIS umgeschwenkt sein – und die GITG hat das Nachsehen.

Die DSAG hält die gesamte Situation für Kliniken aktuell für „hochgradig unkalkulierbar“. Sie fordert ein Eingreifen des Bundesgesundheitsministeriums. „Alle sitzen im gleichen Boot und müssen schnell gemeinsam eine Lösung finden. Deshalb muss die Politik eingreifen und eine klare IT-Strategie vorgeben“, so Pfeil.

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Author: Nathanael Baumbach

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